Stammzellen seien so etwas wie das magische Tischtuch aus dem Märchen – mit diesem Vergleich eröffnete Tim Radford, Wissenschaftsredakteur der britischen Zeitschrift Guardian, die Diskussion zwischen den Experten auf dem Podium: Man breitet es aus, murmelt einige Zaubersprüche und schon erscheint das bestellte Menü. Und der Vergleich ist keineswegs abwegig, denn genau das gelingt dem Schering-Preisträger 2004, Ronald McKay, bereits im Labor: Die Zaubersprüche bestehen aus einer komplexen Abfolge von Botenstoffen, durch die die Differenzierung der Zellkulturen in Nervenzellen oder Leberzellen oder andere Zelltypen gesteuert wird. Zellkulturen gelten als große Hoffnung für alternde Gesellschaften, denn damit könnten sich alterstypische Degenerationserscheinungen wie Arthrose, Parkinson aber auch Alzheimer in Zukunft wirkungsvoller behandeln lassen, sagte Professor Günter Stock.
Von der Petrischale im Labor bis hin zum fertigen Produkt wird der Weg allerdings noch steinig sein, betonte John Sinden, der das britische Unternehmen ReNeuron leitet. Denn zwischen der öffentlich geförderten Grundlagenforschung und der Vermarktung klafft eine Finanzierungslücke, die kleine Unternehmen nicht allein überbrücken können. Aber es wird sich schließlich lohnen, glaubt Ronald McKay, denn Zellkulturen, vor allem aus embryonalen Stammzellen, werden die Medizin drastischer verändern.
Die Stammzellenforschung erlaubt außerdem einen faszinierenden Einblick in die Selbstheilungskräfte des Körpers, sagte der Neurologe Johannes Schwarz. So haben Studien gezeigt, dass das Antidepressivum Prozac möglicherweise vor allem durch die Aktivierung körpereigener Stammzellen wirkt, die wiederum die Dopaminproduktion in den umgebenden Nervenzellen ankurbeln. Ähnliche Prozesse könnten bei der Regeneration des Herzens ablaufen. Aus der Stammzellenforschung ließe sich lernen, wie das Selbstheilungspotential des Körpers gezielt angeregt werden könne, hofft Schwarz.
Der Mediziner Arndt Rolfs wies darauf hin, dass mit dem Oberbegriff Regenerative Medizin nicht nur die Transplantation von Zellkulturen gemeint sei, sondern auch Transplantationen von Organen menschlicher, tierischer oder künstlicher Herkunft und die Entwicklung neuer biokompatibler Materialien. Für die Anwendung in der klinischen Praxis wird zurzeit noch vor allem mit Zellkulturen aus adulten Stammzellen gearbeitet.
Auf Dauer werden sich allerdings embryonale Stammzellen durchsetzen, davon ist McKay überzeugt. Gerade sind Wissenschaftler wie McKay dabei, die grundlegenden Mechanismen zu erforschen, mit denen sich aus embryonalen Stammzellen die spezialisierten Zellen einzelner Gewebe differenzieren. Und aus dem Wissen über die Biologie der Stammzellen werden sich neue Therapieansätze entwickeln lassen, erklärte McKay. Adulte Stammzellen seien dagegen kein ideales Ausgangsmaterial: Natürlich könne man im Prinzip auch aus einer Knospe eine neue Pflanze ziehen, aber wer würde den Aufwand treiben, wenn das Saatgut zur Verfügung steht, fragte der Grundlagenforscher.
Die gesetzlichen Vorgaben grenzen allerdings die Forschung mit Stammzellen in Deutschland deutlich ein, bedauerte Günter Stock. Hier sollte der Gesetzgeber eigentlich besser unterscheiden, befand auch der Rechtswissenschaftler Hans-Georg Koch: Denn auf der einen Seite gibt es Zellgruppen, die aufgrund eines Befruchtungsprozesses aus Ei und Spermium entstanden sind und die das Potential zur Entwicklung einer Identität besitzen. Diesen so genannten Entitäten oder Daseinsformen muss der Gesetzgeber Schutz bieten. Auf der anderen Seite gibt es jedoch heute auch Zellhaufen, die sich nicht nicht durch Kombination zweier Keimzellen (Befruchtung) sondern aus einer einzigen Zelle mit doppeltem Chromosomensatz durch Klonen ableiten. Diese Zellhaufen besitzen grundsätzlich nicht das Potential, jemals eine Identität auszubilden. An solchen Entitäten könnte der Gesetzgeber auch in Deutschland Forschung zulassen.
Dass in Deutschland Forschern deutlich weniger Freiheit eingeräumt wird als beispielsweise in Großbritannien, mag historische Gründe haben, zeigt aber auch ein tief sitzendes Misstrauen gegen die Wissenschaft. Der Homunkulus aus dem Reagenzglas des Doktor Faustus oder die Kreatur aus Leichenteilen aus dem Labor des Doktor Frankenstein spuken in den Köpfen herum. Doch warum gilt nur der Anfang des Lebens als schützenswert und die Gesundheit und Würde der alten Menschen nicht, fragte McKay.
Die Natur selbst geht sehr verschwenderisch mit dem werdenden Leben um, fügte Radford an: Nur ein Bruchteil der befruchteten Eizellen nistet sich in die Gebärmutter ein. Wenn wir eine erfolgreiche Technologie vorweisen können, die kranken Menschen hilft, dann werden die ethischen Bedenken nicht mehr nachvollziehbar sein, vermutet Rolfs. Auch die erste Herztransplantation wurde noch von einer aufgeregten Diskussion um die Identität des Menschen begleitet und im Mittelalter galt es als unchristlich, die Anatomie des menschlichen Körpers an Leichnamen zu studieren. Fast alle ethischen Überzeugungen sind tief in Kultur und Konvention verwurzelt, betonte Günter Stock. In Japan gilt die Transplantation von Organen als problematisch, während Arbeiten an Stammzellen überhaupt nicht unter dem ethischen Gesichtspunkt betrachtet werden. Denn es geht um Haut, Knorpel, Nervenzellen, kurz um das Rohmaterial des Lebens.
Eine Person ist jedoch mehr als die Summe der einzelnen Zellen, und ein befruchtetes Ei ohne Mutter, die es austragen möchte, bleibt ein Zellhaufen. Stammzellen sind natürlich und faszinierend und sie sind die besten Ausgangsprodukte für eine neue Medizin, die man sich vorstellen kann, schloss McKay.
Auf dem Podium diskutierten
Tim Radford, Wissenschaftsredakteur des Guardian
Prof. Ronald McKay, Laboratory of Molecular Biology, National Institute of Neurological Disorders and Stroke, Bethesda, Maryland, USA
Dr. Hans-Georg Koch, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Universität Freiburg
Dr. John Sinden, ReNeuron, Guildford, Surrey, UK
Prof. Günter Stock, Mitglied des Stiftungsrates der Schering Stiftung, Mitglied des Vorstandes der Schering AG
Prof. Johannes Schwarz, stellv. Direktor der Abteilung für Neurologie, Universitätsklinikum Leipzig
Prof. Arndt Rolfs, Institut für Neurologie, Universität Rostock
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