In einem neuen Projekt an der Justus-Liebig-Universität Gießen kommt es zu einer ungewöhnlichen interdisziplinären Begegnung zwischen Bildender Kunst und Organischer Chemie. Die Erkenntnisweisen der beiden Disziplinen überkreuzen sich in einem experimentellen Forschungssetting: Als konzeptkünstlerisches Projekt begriffen, werden Skulpturen mit den Werkzeugen der Chemie in der Größe eines Moleküls modelliert. Ein Erkenntnisprinzip der Kunst wiederum, die sog. Zentralperspektive, wird auf den chemischen Analyserahmen übertragen.
Die zwar übliche Darstellung von Molekülen in verschiedenen räumlichen oder zweidimensionalen Modellen kann im Vergleich zur theoretisch bekannten Form nur ein unvollständiges und defizitäres Hilfsmittel sein. In diesem Projekt wird jedoch genau diese Visualität radikal zum erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt gewählt. Hierbei wird das aus der bildenden Kunst bekannte Prinzip der Zentralperspektive eingesetzt, welches seit der frühen Neuzeit das Bild der Welt epistemologisch auf den Betrachtenden zurückführt: Sein Standort, seine Augenhöhe und sein Blickwinkel konstituieren das Weltbild; was sich hintereinander verdeckt, kann nicht gesehen werden. Übertragen auf die Organische Chemie, werden im Projekt zunächst solche Molekülgruppen identifiziert, die von einer bestimmten Perspektive gesehen die gleiche Form aufweisen, selbst wenn sich in den Staffelungen gänzlich ungleiche Atomstrukturen verbergen. Diese sich perspektivisch gleichenden Moleküle werden „Perspektivisomorphe“ genannt. In einem weiterführenden Schritt soll nach Anwendungsszenarien gesucht werden.
Aus Sicht der konzeptuellen Kunst besteht der innovative Zugang darin, das chemische Labor als Atelier und einzelne synthetisierte Moleküle als gestaltbares Material zu verstehen und zu nutzen. Die entstehende (bildhauerische) Form entzieht sich durch ihre Größe im Subnanometerbereich der unmittelbaren Sichtbarkeit. Zugleich ist es ein eher diskurstheoretisches Ziel der Forschungskooperation, die der Kunst inhärente Reflexionsebene in die Chemie zu übertragen, also das Nachdenken über das eigene Medium, seine Darstellungsform und Erkenntnisdimension.
In der spannenden Entwicklungsarbeit wurde es nötig, neben einer mathematischen Definition basierend auf den van-der-Waals Atomradien die Staffelungen und Verdeckungen im Raum visuell zu erproben. Da sich hierfür keine gängige Modellvorstellung als alleinig aussagekräftig erwies, wurden drei KünstlerInnen gebeten, die fünf verwendeten Atome in zeichnerischen Auffassungen zu gestalten. Patrick Borchers, Jette Flügge und Christoph Kern (siehe Abb.) fanden zu individuellen Darstellungen, die im Projektrahmen als Material der weiteren mathematischen Berechnung und chemischen Analyse dienen.
Ein Projekt von Prof. Dr. Hermann Wegner (Institut Organische Chemie), Prof. Dr. Ansgar Schnurr (Institut für Kunstdidaktik) und Jannis Neumann (Student der Kunstpädagogik und Biologie), Justus-Liebig-Universität Gießen
Unter den Linden 32-34
10117 Berlin
Telefon: +49.30.20 62 29 62
Email: info@scheringstiftung.de
Donnerstag bis Freitag: 13-19 Uhr
Samstag und Sonntag: 11-19 Uhr
Eintritt frei