Der diesjährige Ernst Schering Preis wird an Professor Johann Mulzer vom Institut für Organische Chemie der Universität Wien verliehen, für seine hervorragenden und grundlegenden Arbeiten zur chiralen Synthese von Naturstoffen und Wirksubstanzen.
Rechte und linke Hand verhalten sich wie Bild und Spiegelbild: Sie lassen sich nicht zur Deckung bringen. Abgeleitet vom griechischen Wort für Hand („cheir“) beschreibt die „Händigkeit“ auch in der Chemie solche Moleküle, von denen Bild und Spiegelbild existieren. Aus den gleichen Atomen und in gleicher Reihenfolge aufgebaut, unterscheiden sie sich in ihrer räumlichen Struktur wie Bild und Spiegelbild, wissenschaftlich Enantiomere genannt. Physikalisch zeichnet sie die Fähigkeit aus, die Ebene linear polarisierten Lichts nach links oder rechts drehen zu können. Genau diese Eigenschaft ist gemeint, wenn auf Joghurtbechern steht: „Mit L (+) rechtsdrehender Milchsäure“, wobei „L“ die räumliche Struktur angibt und „(+)“ die optische Drehrichtung rechts.
In Biologie und Physiologie ist die Chiralität von zentraler Bedeutung, denn bei einem Großteil der Stoffe, die unseren Körper aufbauen, bei Enzymsystemen, die ihn funktionieren lassen, und bei der Nahrung, die wir aufnehmen, handelt es sich um chirale Verbindungen. Sowohl beim Aufbau körpereigener Substanzen als auch bei der Verwertung zugeführter Stoffe sind der Mensch und alle anderen Lebewesen genauer und perfekter in Sachen Chiralität als jedes Labor der Welt. So bestehen etwa Proteine ausschließlich aus L-Aminosäuren. Die biochemische Konsequenz daraus liegt in der gegenseitigen Erkennung chiraler Gegenstände bzw. Moleküle. Geben sich zwei Menschen die rechte Hand, so hat das die „Funktion“ einer Begrüßung oder Verabschiedung. Legen zwei Menschen aber rechte und linke Hand ineinander, vermittelt das ein Bild von „Vertrautsein“, vielleicht eines Paares beim Spazierengehen – eine ganz andere Funktion also.
Ähnliche Prozesse spielen sich im Körper ab. Dies ist von besonders wichtiger Bedeutung bei der Entwicklung von Arzneimitteln, die sehr oft chirale Substanzen sind. Denn rechts- und linksdrehende Wirkstoffe können unterschiedliche Wirkungen und auch Nebenwirkungen zeigen. Leider gibt es kein allgemeingültiges Raster dafür, ob zum Beispiel nur die linksdrehende Form eines Medikaments wirksam ist, während die rechtsdrehende für eine Nebenwirkung verantwortlich ist, ob beide gleich wirksam sind, oder ob eine Form die gewünschte Wirkung aufweist, die andere aber auch nicht schädlich ist. Diese Reaktionen werden bei jedem Wirkstoff in der Arzneimittelentwicklung geprüft.
Ein Beispiel aus der Schering-Forschung bietet die Entwicklung von Kontrazeptiva. Kombinationspräparate zur Empfängnisverhütung beinhalten zwei weibliche Geschlechtshormone, ein Östrogen und ein Gestagen. Früher wurde unter anderem das künstliche Gestagen Norgestrel verwendet, eine Mischung aus rechts- und linksdrehender Form. Die gewünschte Wirkung erzeugt jedoch nur die linksdrehende Form. Die rechtsdrehende Form hat zwar keine unerwünschten Nebenwirkungen, muss aber vom Körper abgebaut werden. Als es gelang, das reine linksdrehenden Enantiomer, das Levonorgestrel, herzustellen, konnte die Hormondosis auf die Hälfte reduziert werden.
Mitunter kann sich jedoch die Synthese von enantiomerenreinen Arzneimitteln als sehr schwierig erweisen. Auf diesem Gebiet liegen die herausragenden Verdienste von Mulzer als Chemiker, der hochkomplizierte chirale Synthesen von Naturstoffen und Wirkstoffen über zahlreiche Synthesestufen hinweg durchgeführt hat. Seine damit nachgewiesenen Synthesestrategien beinhalten Prinzipien, die weit über die Grundlagenforschung hinaus in hohem Maße anwendungsorientiert sind, da sie auch auf die Entwicklung anderer Substanzen – insbesondere Arzneimittel – übertragbar sind.
26.09.1997
Ernst Schering Preis 1997
Weimar
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Donnerstag bis Freitag: 13-19 Uhr
Samstag und Sonntag: 11-19 Uhr
Eintritt frei