Dr. Ilme Schlichting vom Max-Planck-Institut für Molekulare Physiologie in Dortmund erhält den Ernst Schering Preis 1998 für ihre hervorragenden und richtungsweisenden Arbeiten als Pionierin auf dem noch jungen Gebiet der kinetischen Kristallographie. Durch die für jede Fragestellung individuelle Auswahl und Kombination verschiedener Analyseverfahren und Versuchsbedingungen hat Dr. Schlichting der Röntgenstrukturanalyse die vierte Dimension eröffnet: Ihr ist es gelungen, extrem kurzlebige Intermediate von Proteinen, die bei biochemischen Reaktionen entstehen, dreidimensional abzubilden.
Die rationale Entwicklung eines neuen Arzneimittels beginnt heute mit der Aufklärung der molekularen Mechanismen einer Krankheit. In praktisch allen biologischen Prozessen spielen Proteine eine entscheidende Rolle. Eine einzige unplanmäßige Abweichung in ihrer räumlichen Struktur kann das wohlregulierte Zusammenspiel chemischer Reaktionen in der Zelle so aus dem Gleichgewicht bringen, dass eine ernste Erkrankung die Folge ist.
Ihre Aufgaben innerhalb des Stoffwechsels erfüllen Proteine hochspezifisch, meist in Zusammenarbeit mit anderen Proteinen oder niedermolekularen Verbindungen. Die Erkennung der Partner erfolgt dabei nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung maßgeschneideter Arzneimittel (drug design), die mit bestimmten Proteinen wechselwirken sollen, ist die Kenntnis der räumlichen Struktur des jeweiligen Proteins eine wichtige Voraussetzung.
Kompliziert wird dieses Vorgehen dadurch, dass sich Proteine während einer Reaktion verändern, es also keine starren räumlichen Strukturen gibt. Für ein vollständiges Bild der Bewegung, die ein Protein während einer Reaktion ausführt, benötigt man auch Bilder der Zwischenschritte. Diese „leben“ meist nur Bruchteile einer Sekunde und entziehen sich so herkömmlichen Verfahren der Analyse.
Grundlage für die Strukturanalyse von Proteinen sind Proteinkristalle. Durchleuchtet man diese mit Röntgenstrahlen, kann aus dem Beugungsmuster mit Hilfe eines Computers die räumliche Anordnung der Atome berechnet werden. Die Datensammlung benötigt üblicherweise Stunden bis Tage. Dieses langwierige Verfahren eignet sich darum nicht, extrem kurzlebige Zustände, die für das Maßschneidern von Arzneimitteln interessant sein könnten, abzubilden. Zwei Lösungsansätze sind denkbar: Eine schnellere Datensammlung durch die Verwendung intensiver Röntgenstrahlung unterschiedlicher Wellenlängen oder die Stabilisierung der Zwischenzustände etwa durch Absenken der Temperatur.
Zusätzliches Problem bei der Darstellung von kurzlebigen Zuständen ist ihre klare Abbildung. Dazu müssen nahezu alle Proteine im Kristall zeitgleich reagieren. Dieses Problem konnte Dr. Ilme Schlichting für zahlreiche Proteine lösen, indem sie zunächst inaktive Vorstufen kristallisiert und dann, zum Beispiel durch Licht, zeitgleich aktiviert. In Abhängigkeit der zu untersuchenden Reaktion kombiniert Dr. Schlichting die passenden Analyseverfahren und Versuchsbedingungen und erhält so eine Abfolge einzelner Bilder, die – wie beim Daumenkino – ein vollständiges, bewegtes Bild der Reaktion wiedergeben: Vorher – während – nachher.
Wird eine routinemäßige Anwendung des rationalen drug design möglich, kann die Zeit von der Idee bis zur Anwendung eines Arzneimittels drastisch verkürzt werden. Die Arbeiten von Dr. Ilme Schlichting können in Zukunft einen wichtigen Beitrag für die gezieltere Entwicklung neuer Medikamente sein.
23.09.1998
Ernst Schering Preis 1998
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