Professor Ronald McKay wird für seine Pionierarbeiten auf dem Gebiet der neuronalen Stammzellforschung mit dem Ernst Schering Preis 2004 ausgezeichnet. Der Molekularbiologe McKay untersucht, wie Stammzellen differenzierte Zellen generieren und entwickelt Strategien, um aus Stammzellen funktionierende Nervenzellen und Zellen anderer Organe zu kultivieren. Seine Forschungsergebnisse stellen die Grundlagen für neue Therapien von neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson, Multipler Sklerose aber auch von Volkskrankheiten wie Diabetes bereit.
Am Anfang einer großen Wissenschaftlerlaufbahn steht oft das Staunen über die scheinbar selbstverständlichen Prozesse der Natur: Wie kann sich ein Organismus mit all seinen verschiedenen und hochspezialisierten Zelltypen aus der Fusion von Ei- und Samenzelle entwickeln? Was zeichnet embryonale Stammzellen aus und welche Prozesse sind dafür verantwortlich, dass sie ihre ursprüngliche Vielseitigkeit verlieren und zu spezialisierten, sterblichen Zellen verschiedener Gewebetypen und Organe heranreifen? Und spielen Stammzellen auch im erwachsenen Organismus noch eine Rolle?
Es waren Fragen wie diese, die Ronald McKay vor dreißig Jahren als jungen Biologen bewegten und seitdem nicht mehr losgelassen haben. Er begann, die molekularbiologischen Prozesse zu untersuchen, die die Zellentwicklung begleiten und steuern. Heute ist McKay einer der ganz großen Pioniere der Stammzellforschung und hat das Verständnis der Zellentwicklung, insbesondere der Entwicklung von Nervenzellen und anderen Zellen des Gehirns, enorm vertieft. Für diese bahnbrechende wissenschaftliche Leistung wird der Molekularbiologe nun mit dem Ernst Schering Preis geehrt. Mit einem Preisgeld von 50.000 Euro gehört der Ernst Schering Preis zu den höchst dotierten Wissenschaftspreisen in Deutschland.
McKay forscht am National Institute of Neurological Disorders and Stroke und leitet als Direktor die Human Stem Cell Unit des National Institute of Health in Bethesda, USA. Der Grundlagenforscher setzt sich im Auftrag seiner Kollegen auch persönlich mit seiner ganzen Überzeugungskraft für die Forschung mit embryonalen Stammzellen ein. So konnte er durch Gespräche mit Repräsentanten der US-Regierung und George W. Bush erreichen, dass nun alle öffentlich geförderten Forschungseinrichtungen der USA mit embryonalen Stammzellen arbeiten dürfen, die aus bestehenden embryonalen Stammzell-Linien abgeleitet wurden.
Ronald McKay ist aber nicht nur ein hochproduktiver und einfallsreicher Wissenschaftler, sondern knüpft auch Verbindungen zwischen Grundlagenforschung und klinischer Forschung. Er ist davon überzeugt, dass ein tieferes Verständnis der Biologie der Stammzelle neue Therapien ermöglichen wird, mit denen sich defekte Zellpopulationen ersetzen oder regenerieren lassen. Damit bereitet er den Boden für die regenerative Medizin der Zukunft vor, auf die in einer alternden Gesellschaft immer mehr Menschen hoffen.
Weltweites Aufsehen erregte Ronald McKay Mitte der 1980er Jahre, als er als erster Wissenschaftler auch im Zentralen Nervensystem von Säugetieren Stammzellen identifizieren konnte. Dieses Ergebnis widersprach der Lehrbuchmeinung, nach der Stammzellen nur in den ersten Teilungsstadien des Embryos vorkommen und sich im Lauf der weiteren Entwicklung rasch zu den spezialisierten Zellen der verschiedenen Organe und Gewebstypen ausdifferenzieren. Als einzige Ausnahme galten (außer den Keimzellen) die Stammzellen im Knochenmark (Blutbildung), in der Haut und im Dünndarm. Doch dass es im Gehirn selbst teilungsfähige und undifferenzierte Zellen gibt, die als Quelle für eine Erneuerung abgestorbener Nervenzellen dienen können, war unvorstellbar.
1985 wies McKay gemeinsam mit seiner Kollegin Susan Hockfield solche neuralen Stammzellen im zentralen Nervensystem von Säugetieren nach. In weiteren Untersuchungen galt seine besondere Aufmerksamkeit dabei den Mechanismen, die die Differenzierung der Stammzelle steuern. Diese Untersuchungen führten zu seinem größten experimentellen Erfolg: Er konnte nachweisen, dass sich im Prinzip alle funktionalen somatischen (im Körper integrierte) Zelltypen und Gewebe aus Stammzellen unter kontrollierten Bedingungen kultivieren lassen.
Aus diesem Grund werden seine Arbeiten mit Spannung auch von Medizinern verfolgt, die sich für die Eigenschaften bestimmter Zellen interessieren. Besonders Menschen, die an neurodegenerativen Krankheiten wie dem Parkinson-Syndrom oder Multipler Sklerose leiden, warten auf neue Therapien, die ihnen wirklich helfen.
Viele von McKays Untersuchungen konzentrieren sich auf einen bestimmten Typ von Nervenzellen, der im Mittelhirn den Neurotransmitter Dopamin erzeugt. Diese dopaminerzeugenden Nervenzellen spielen vor allem bei der Kontrolle motorischer Prozesse, aber auch bei Belohnung, Sucht, Aufmerksamkeit und Kognition eine große Rolle. Transplantationen solcher Zellkulturen in beschädigte Hirnbereiche, beispielsweise von Parkinson-Patienten, könnten dort die Produktion von Dopamin aufnehmen und so Bewegungsstörungen und das typische Zittern rückgängig machen, unter denen die Patienten leiden.
Bei Nagetieren sind solche Zelltransplantationen in das Gehirn bereits sehr erfolgreich gewesen: McKay hat die Prozeduren und Wachstumsfaktoren präzise beschrieben, mit denen sich aus embryonalen Stammzellen der Ratte dopaminerzeugende Nervenzellen erzeugen lassen. Mitarbeiter seiner Forschungseinheit konnten große Mengen solcher Nervenzellen kultivieren. Diese Zellkulturen (etwa 500.000 Zellen) brachten sie anschließend in den Bereich des Mittelhirns von Ratten ein, die an Parkinson erkrankt waren. Eine Kontrollpopulation von Parkinson-Ratten erhielt keine Zelltransplantation. Tatsächlich schnitten die mit Stammzellen behandelten Tiere im Vergleich zur Kontrollgruppe in einer Vielzahl von Bewegungstests deutlich besser ab. Analysen der Hirngewebes zeigten, dass sich ein beachtlicher Anteil der transplantierten Zellen integriert hat und tatsächlich den Botenstoff Dopamin produzierte.
Auch Typ-I-Diabetiker könnten in Zukunft von Fortschritten der Stammzellenforschung profitieren. McKay und seine Kollegen haben aus embryonalen Stammzellen der Maus in vitro insulinerzeugende Zellen gezüchtet. Diese Zellen haben sich von selbst zu dreidimensionalen Strukturen zusammengeschlossen, die in Aufbau und Verknüpfung den Langerhansschen Inseln der Bauchspeicheldrüse ähnlich sind und auch schon in der Petrischale funktionieren: auf die Gabe von Glukose produzieren sie Insulin.
Bei der Schering-Preisverleihung stellt McKay auch noch unveröffentlichte Daten vor. Denn es ist seinem Team nun erstmals gelungen, auch aus menschlichen embryonalen Stammzellen in vitro hoch angereicherte Populationen an Nervenzellen zu kultivieren. Diese bildeten Synapsen aus und waren in der Lage, auch Dopamin zu produzieren. Damit hat McKay gezeigt, dass die Aggregation von menschlichen embryonalen Stammzellen sehr schnell differenzierte Zellen generieren kann, die in der Morphologie und in der Kombination von exprimierten Genen den wichtigsten Zelltypen des Körpers in seiner embryonalen und späteren Entwicklung entsprechen.
Das Entwicklungs-Potential dieser Vorläuferzellen ist sehr groß – in weiteren Versuchen konnten McKay und sein Team nicht nur dopaminerzeugende Nervenzellen sondern auch Leberzellen erzeugen. Mit diesen Ergebnissen ist der Nachweis erbracht, dass menschliche embryonale Stammzellen alle wichtigen Zelltypen der Gastrula (frühes Stadium der embryonalen Entwicklung) erzeugen und dass diese Zellen in wenigen Entwicklungsschritten zu Populationen heranreifen, die sich durch einen hohen Anteil an differenzierten somatischen Zellen auszeichnen.
In seinen neuesten Arbeiten entwickelt McKay Strategien, um aus der hohen Kunst der Zelldifferenzierung in der Glasschale des Labors eine Routineprozedur zu machen und zuverlässig große Mengen an menschlichen Zelltypen „nach Kochrezept“ zu erzeugen, mit denen klinische Studien vorangetrieben werden können. „Das Gehirn ist ein besonderes Organ, das sich durch sehr milde Immunreaktionen auszeichnet. Wir vermuten, dass es daher gar nicht notwendig sein wird, Kulturen aus menschlichen embryonalen Stammzellen für jeden Patienten individuell anzupassen“, sagt McKay.
Das öffentliche Interesse an dieser Art von Forschung speist sich aus der Hoffnung auf neue regenerative Therapien. Die Beispiele, die am meisten diskutiert werden, betreffen die Zellerneuerung bei Krankheiten des Nervensystems (vor allem der Parkinson’schen Krankheit), der Bauchspeicheldrüse (Diabetes vom Typ I), der Leber aber auch des Muskel-und Skelettsystems oder des Blutsystems. Der klinische Nutzen von Zelltransplantationen ist für Zellen im Blut und der Haut gut belegt, Transplantationen bleiben aber weiterhin technisch anspruchsvoll. Seit über einem Jahrzehnt werden auch bereits Parkinson-Patienten mit Zelltransplantationen aus dopaminerzeugenden Nervenzellen behandelt. Klinische Studien zeigen, dass die Technik noch lange nicht ausgereift ist: nicht alle Patienten profitieren dauerhaft davon und nur im günstigsten Fall mildern sich einige der Bewegungsstörungen. Bislang fehlte jedoch auch eine zuverlässige Quelle für große Mengen dopaminerzeugender Nervenzellen, um diese Zelltherapie systematisch zu erforschen und zu verbessern. McKay und seine Forschungsgruppe haben nun die Technologie entwickelt, die solche Quellen zur Verfügung stellt, nicht nur für dopaminerzeugende Nervenzellen sondern auch für andere Zelltypen des menschlichen Körpers.
Der klinische Nutzen von menschlichen embryonalen Stammzellen beschränkt sich jedoch nicht auf Zelltherapien, betont McKay. Auch die spezifischen Mechanismen von Erkrankungen und die Wirkung von Medikamenten auf verschiedene Menschen lassen sich an menschlichen Zellen besser erforschen als im Tierversuch mit Nagern. Eine zuverlässige Quelle, die nahezu unbegrenzte Mengen solcher Zellen zur Verfügung stellt, ermöglicht auch der klinischen Forschung neue Fortschritte. Darüber hinaus sind die Mechanismen, die das Wachstum von Stammzellen kontrollieren, von großer Bedeutung für die Krebsforschung und werden einen tieferen Einblick in die genetischen Grundlagen vieler Krankheitsbilder auf zellularer Ebene erlauben, sagt der Wissenschaftler.
Durch seine Untersuchungen des Nervensystems von Säugetieren gelangte McKay als einer der Ersten zu der Überzeugung, dass eine neue Technologie erforderlich sein würde, um die komplexen molekularbiologischen Prozesse in den Zellen zu untersuchen. Mit der Entdeckung der Stammzellen und der Entwicklung von Methoden, diese kontrolliert zu kultivieren, hat er das neue Werkzeug für die Forschung bereitgestellt. Viele der verwickelten molekularen Vorgänge im Nervensystem von Säugetieren, die er in seinen frühen Arbeiten beschrieben hat, können nun mit Hilfe von Stammzellkulturen aufgeklärt werden. Dies ist ein großer Beitrag zum Verständnis der Natur, der nicht nur die Biologie, sondern vermutlich auch die Medizin der Zukunft verändern wird.
23.09.2004, 17–19 Uhr
Ernst Schering Preis 2004
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